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Versuch eines Versuches

über den

Ruhestand im 20. Jahrhundert

oder

Eine Verschwörung macht Geschichte

von

Ansgar Sebastian Klein

Das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert des Ruhestandes bezeichnen zu wollen, wäre wohl etwas zu übertrieben, vielleicht sogar völlig verfehlt, ist es doch wahrscheinlich eines der unruhigsten und beunruhigsten all derer, von denen wir - mehr oder weniger - Kenntnis haben.

Trotzdem ist der Ruheständler ein Phänomen unseres Jahrhunderts, eines bzw. das des Massenzeitalters. Im 19. Jahrhundert, zu Zeiten der Bismarckschen Sozialgeschenkgebung, bildeten diese - angesichts der eher gering ausfallenden Lebenserwartung des Einzelnen - eine wohlkalkulierte Minderheit. Die heutige Forschung beschäftigt sich zunehmend mit dem Schicksal solcher Randgruppen, so daß eine Untersuchung, sowohl aus sozial- als auch wirtschaftlicher Perspektive, wohl bald zu erwarten ist.

Ruhestand ist, so definiert es ein Lexikon, "der Lebensabschnitt, der für Berufstätige nach ihrer Loslösung aus dem Arbeitsleben eintritt". Es unterscheidet zwischen der Bereitschaft und dem Widerstand gegen den Eintritt in den Ruhestand, je nach der Identifikation mit der Arbeit. Und es weist auf den grundlegenden und plötzlichen Wechsel der gewohnten Lebenssituation von Berufstätigen hin, der zur Störung des psychischen Gleichgewichts, zum sogenannten Pensionierungsschock, führen kann.

Ruhestand ist aber auch das Rechtsverhältnis eines auf Lebenszeit berufenen Beamten zu seinem Dienstherren nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst wegen Erreichens der Altersgrenze. Diese liegt in der Regel bei der Vollendung des 65. Lebensjahres. Bestimmte Beamte können jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Hier greift der augenscheinlich unlösbare Konflikt zwischen der unausgesprochenen politischen Funktion des Beamten und seiner Neutralität gegenüber politisch extremen Herrschaftsträgern.

Betrachtet man die Brüche in der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert ist man geneigt, statt des normalen den einstweiligen Ruhestand als durchaus üblich anzusehen. Nirgendwo wurden so viele Beamte in den besten Jahren freigesetzt wie in deutschen Landen. Dies stimmt den unvoreingenommenen Beobachter nachdenklich.

Steckt hinter all dem vielleicht ein System? Was, wenn dies alles nur Teil einer genialen Verschwörung gewesen ist: eine Art unermüdliches Wirken für den vorgezogenen Ruhestand! Unwillkürlich fragt man sich da: wer steckt wohl dahinter? Zogen in Wirklichkeit Beamte die Fäden der deutschen, der Welt- oder sogar der rheinischen Geschichte? Zielten ihre Aktivitäten auf den Ruhestand, und den sobald als möglich?

Lassen wir das Jahrhundert aus dieser Sichtweise einmal Revue passieren:

Die Novemberrevolution 1918/19 ließ den Beamtenapparat noch nahezu intakt. Offenbar war man überrascht worden (möglicherweise wurde die Idee auch jetzt geboren). Lediglich die Spitzenbeamten des in Ruhestand geschickten Kaisers durften fortan glorreichen Ruhezeiten entgegengehen. Viele von ihnen nutzten die gewonnene freie Zeit und engagierten sich in Parteien und Verbänden zum Wohle der verbliebenen, d.h. arbeitenden Beamten.(Hier wäre das von bösen Zungen kolportierte Gerücht, Beamte würden den Übergang vom Dienst zum Ruhestand gar nicht bemerkten, auf das Schärfste zurückzuweisen). Ein Teil der Vor-Ruheständler schaffte es nach 14 Jahren aufopferungsvoller Tätigkeit, daß die Weimarer Republik und mit ihr - ein wohl nicht so gewollter Nebeneffekt - die erste deutsche Demokratie in den - einstweiligen - Ruhestand geschickt wurde - und mit ihr zahllose Beamte: Minister, Staatssekretäre, Regierungspräsidenten, Landräte, Bürgermeister und Ortsvorsteher (um nur die wichtigsten zu nennen). Mithin ein grandioser Sieg der geheimen Ruhestandsbewegung!

Die im Jahre 1933 an die Macht gekommenen mußten sich anstrengen, um gleiche Ergebnisse vorzuweisen. Das Ergebnis ist bekannt: es gelang ihnen, in nur zwölf Jahren einen ähnlichen Erfolg vorzuweisen. 1945 gingen erneut zahllose Staatsdiener in den Ruhestand. Ein Schönheitsfehler hatte sich allerdings eingeschlichen: mittlerweile waren so viele im Ruhstand, daß man den einen oder anderen aus der Weimarer Zeit, aber auch aus dem Dritten Reich wieder aktivierten mußte. Zunächst ließ man allerdings die alliierten Behörden arbeiten und füllte die leeren Ministerien auf. Um noch mehr Ruheständler zu bekommen, entwarf man den Plan die Ministerien zu vergrößern, doch dann fand man die optimale Lösung: man verdoppelte sie durch die Gründung zweier deutscher Staaten. Diese würden in Konfrontation zueinander stehen und eines Tages würde einer von ihnen wieder verschwinden.

Ob die Wende in der DDR 1989 als ein absoluter Höhepunkt gewertet werden kann, bleibt vorerst dahingestellt.. Mit ihr gingen zwar unzählige mehr oder weniger sozialistische Staatsdiener in den Ruhestand, doch wäre die BRD zusammengebrochen, wären nicht viel mehr in den Ruhestand übergewechselt? Genaueres wird man wohl erst wissen, wenn die Geschichte der Stasi wirklich aufgearbeitet ist, schließlich werden immer noch im Westen ihre Agenten enttarnt,. so daß Grund zur Annahme besteht, es hat doch den richtigen Staat getroffen. Die Verschwörer machen ja auch sonst keine Fehler.

Ruhestand bedeutet aber nicht unbedingt Ruhestand, kann man einwenden. Bekannte Ruheständler sind reaktiviert worden, oder haben sich selbst reaktiviert: Paul von Hindenburg war bei Kriegsausbruch 1914 bereits 67 Jahre alt, als er 1925 Reichspräsident wurde, hatte er das stattliche Alter von 78 Jahren erreicht. Ja, aber. Nur mit seiner unermüdlichen Tatkraft gelang es den Verschwörern, den grandiosen Ruhestands-Sieg von 1933 zu erfechten. Und Konrad Adenauer? Mit 73 Jahren ließ er sich zum ersten Kanzler der jungen Bundesrepublik wählen. Sein Regierungsstil, die Kanzlerdemokratie, d.h. der Kanzler übernimmt soviel wie möglich, um Beamte zu entlasten, wirkte prägend. Schließlich bemühte sich Adenauer vergebens, den Bundespräsidenten in den wohlverdienten Ruhestand zu helfen, indem er sich selbst um dieses Amt bewarb. Die offizielle Geschichtsschreibung kennt auch hier die wahren Hintergründe noch nicht. Ob sich allerdings in den Archiven Schriftliches finden läßt, darf zu Recht bezweifelt werden.

Diese Erkenntnis führt uns unweigerlich zu der Frage: gibt es einen Kopf hinter all dem und wer lenkt dies alles? Die Antwort ist so simpel wie offenbar: der Verdächtige ist immer derjenige, den man am wenigsten verdächtigt. Sind es nicht die Professoren an Universitäten und Hochschulen, die bis zum 65. Lebensjahr ausharren und behaupten, ihre Arbeit mache ihnen Spaß? Und haben nicht gerade die Historiker die Möglichkeit und damit die Aufgabe, die wahren Tatsachen zu verschleiern? Oder wurden sie einfach vergessen?

Nach diesen Ausführungen fällt ein Abschluß naturgemäß schwer. Zusammenfassen kann man wohl feststellen: möglich ist alles.

Und obwohl das Durchschnittsalter, in dem beispielsweise Lehrer oder Polizeibeamte in den Ruhestand gehen, ständig sinkt (Professoren sind davon natürlich ausgenommen, heben dafür den Schnitt), hat sich indes der Traum des unbekannten Langzeitstudenten noch lange nicht erfüllt, nämlich der, daß irgendwann einmal der Abschluß des Studiums mit dem Beginn der Rente zusammenfällt.

© by the author 1998

Erstveröffentlichung in: "... sozusagen..." Kleine rheinische Geschichten. Jubelschrift für Wilhelm Janssen zum erfolgreichen Erreichen des Ruhestandes, Bonn 1998, S. 22-25.

 

Aus dem Inhalt:

ALexander Thon: Studien zu den Verhaltensweisen spätmittelalterlicher Ministerialen, S. 1-7

Ursula Gechter: Der Eintritt in den Ruhestand - ein Ritual des späten Mittelalters, S. 8-11

Marcus Leifeld: Leben und Wirken eines Hofmannes, S. 12-15

Clemens Haustein: Historiker auf dem Merkur, S. 16-21

Herbert Kipp: Wesel - Schicksalsstadt eines Professors, S. 26-27